Beginnt die Post-App-Store-Ära?
Die Marktforscher und Technologie-Analysten von Gartner prägten in den vergangenen Jahren den Begriff der „Post-App-Store-Ära“. Obwohl sich der Begriff im ersten Moment liest, als würde die App-Industrie künftig stagnieren oder gar schrumpfen, prognostiziert Gartner genau das Gegenteil: Apps werden immer wichtiger, aber sie verändern sich.
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Geändertes Nutzerverhalten
Apps für Mobilgeräte gibt es schon seit über 20 Jahren. Doch es war meist schwierig, sie zu finden und auf die Geräte zu übertragen. Sie spielten für die meisten Nutzer daher keine große Rolle. Dies änderte sich mit Apples iPhone – genauer gesagt: mit der Einführung von iOS 2.0 im Jahr 2008. Denn das ursprüngliche iPhone wurde 2007 noch gänzlich ohne App Store ausgeliefert – heute kaum vorstellbar. Mit dem App Store startete Apple eine App-Revolution, der sich bald auch andere große Konzerne wie Google anschlossen. Für den Nutzer waren Apps nun einfach zu finden, zu kaufen, zu laden und zu installieren. Entwickler hatten endlich eine Plattform, auf der ihre Produkte gefunden wurden, und nebenbei haben sich Apple und Co. damit ein zusätzliches Geschäftsmodell erschlossen.
Inzwischen sind neue Funktionen wie beispielsweise Push-Benachrichtigungen oder 3D-Touch hinzugekommen und Apps lassen sich im Hintergrund ausführen. Dadurch ergeben sich immer neue Einsatzgebiete für immer mehr Apps. Über 2 Millionen verschiedene Apps sind bereits in Apples App Store verfügbar. In Googles Play Store sind es sogar fast 2,36 Millionen und im Amazon Appstore immerhin 600.000 Anwendungen.
Doch schaut man auf die Geräte der meisten Nutzer, finden sich höchstens einige hundert auf dem Gerät, von denen nur eine Handvoll regelmäßig benutzt wird. Tendenz sinkend: Laut comScore verbringen die meisten Nutzer Dreiviertel der Zeit in ihren drei Lieblingsapps. Social-Media-Apps und Messenger wie Facebook, WhatsApp, Messenger und Snapchat sind häufige Beispiele dafür. Während die Nutzung von Social-Media-Anwendungen laut Umfragen von Gartner in den USA, Großbritannien und China im vergangenen Jahr gegenüber dem Vorjahr um 2 Prozentpunkte auf 83 Prozent zurückgegangen ist, stieg die Nutzung von Messengern um 3 Prozentpunkte auf nun 71 Prozent. Diese Handvoll Apps landet meist auf dem Home Screen, von wo aus sie schnell erreichbar sind. Sie werden in der Regel ständig weiterentwickelt und erhalten mehr und mehr Funktionen wie in Facebooks Fall etwa das Live-Streaming oder beispielsweise das Aufgeben von Taxi-Bestellungen direkt aus dem Facebook Messenger. Zumindest vorerst beschränkt sich dieser Dienst auf den Dienstleister Uber und steht nur in wenigen Städten der USA zur Verfügung. Diese Beispiele zeigen aber ein Potential. Jessica Ekholm, Forschungsdirektorin bei Gartner, erwartet, dass Messenger zunehmend fesselnder und funktionsreicher werden.
Integration in die Super-App
Kurz: Sie entwickeln sich zu Super-Apps. Diese funktionieren nach dem Prinzip des Schweizer Taschenmessers: Super-Apps versuchen, die Funktionen von möglichst vielen Apps in sich zu vereinen und somit zum Eintrittstor in die digitale Welt zu werden. Ein Parade-Beispiel für diese Spezies nennt sich Weixin („kleine Nachricht“) – hierzulande besser bekannt als WeChat. Der Messenger, wie sich der Dienst selber einstuft, ist in China weit mehr als eine Chat-App. Es ist WhatsApp, Facebook, Skype, Uber, Amazon, Instagram, PayPal, Shazam, Venmo, Tinder und noch viel mehr in einem. Hinzu kommt eine Reihe von Funktionen, für die wir hierzulande gar keine geläufigen Alternativen besitzen: Das Buchen von Arztterminen, Investment Services, Heat-Maps, die zeigen, wie belebt ein Ort gerade ist, und viele weitere Funktionen.
Ein gefährlicher Trend – nicht wegen der Funktionen an sich, aber die Tatsache, dass all diese Funktionen in einer einzigen App vereint sind, birgt Gefahren. Die NY-Times zeichnet in einem Facebook-Video folgendes Szenario: Mit Weixin kann man einen Hundewasch-Service bestellen, bezahlen, ein Foto vom sauberen Haustier mit Freunden teilen, die das Foto sehen und direkt denselben Service buchen können, Freunden für solche Hinweise danken, sie zum Essen in ein Restaurant einladen, in dem man mit der App bestellen und ebenfalls bezahlen kann, sich zum Restaurant navigieren lassen oder ein Taxi dorthin bestellen, ohne auch nur ein einziges Mal die App zu verlassen.
Was erst einmal komfortabel klingt und schon über 700 Millionen Menschen in China überzeugt hat, ist gleichzeitig der Albtraum jedes Datenschützers. Tencent, der Entwickler der App, weiß, worüber man wann und mit wem spricht, wo man sich aufhält, wo man hin will und warum; mit wem man sich dort trifft, wofür man online oder offline sein Geld ausgibt und vieles mehr. Der gläserne Kunde – aber auch der gläserne Bürger, denn in China, das für die Spionage unter den eigenen Einwohnern und für zahlreiche Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, können diese Informationen auch von der Regierung eingesehen werden.
Für Entwickler bergen diese Apps aber auch eine Chance. Für sie wird es immer schwieriger, in der Masse der Anwendungen in den App Stores gefunden zu werden. Business Insider zitiert die Ergebnisse seines eigenen Forschungsservices, BI Intelligence, wonach hierfür oft hohe Marketingkosten anfallen. Um angesichts der zahlreichen Konkurrenz-Apps für die Nutzer attraktiv zu bleiben, seien die Entwickler gezwungen, ihre Apps kostenlos anzubieten. Um die Kosten wieder reinzuholen, müssten die Nutzer aber mehr Zeit in den Apps verbringen, was sie jedoch nicht tun, da sie nur eine Handvoll Apps regelmäßig und exzessiv nutzen. Viele Entwickler versuchen deswegen, die Nutzer mit nervigen Benachrichtigungen zur Aktivität anzuhalten, womit Sie häufig noch die letzten Nutzer vergraulen.
Die Handvoll bedeutender Programme wie etwa Facebook könnte Entwicklern aber neues Potential eröffnen, wenn sie die Apps anderer Entwickler in ihre Programme integrieren. Ein Beispiel dafür sind Chatbots oder die im November 2016 gestarteten Facebook Instant Games, die direkt in der Messenger-App laufen.
Eines der ersten Spiele ist Everwing, ein vertikales Shoot’em-up-Spiel, das in kurzen Runden gespielt werden kann und dem Spieler ermöglicht, das Wesentliche weiter im Auge zu behalten. Dabei war es wichtig, „das, was normalerweise als großer Download im App Store stünde, in etwas zu verwandeln, das sich in höchstens 10 oder 20 Sekunden lädt und eine nahtlose Benutzeroberfläche und ein reibungsloses Erlebnis zu entwickeln“, sagte Michael Carter, CEO des Entwicklers Blackstorm. Er betonte, dass Facebooks Messenger mit über einer Milliarde monatlich aktiver Nutzer eine riesige Nutzerbasis biete. Dabei handele es sich um ziemlich gewöhnliche Nutzer, die das Spiel in den ersten 30 Sekunden begreifen müssten. Damit Everwing nicht zum Ersatz, sondern zu einer Erweiterung des Chats wird, hat der Entwickler einen Coop-Modus integriert, in welchem beide Chatpartner zusammen spielen können. Carter befürchtete anfangs, das Engagement der Spieler könnte darunter leiden, dass sie ein neues Verhaltensmuster lernen müssten. Schließlich muss man erst den Messenger öffnen, um das Spiel zu starten. Doch wie sich herausgestellt habe, sei der Aufwand deutlich geringer, als minutenlang eine 100 MB große App herunterzuladen, sodass die gemessenen Werte bisher deutlich besser gewesen seien als bei herkömmlichen Apps. Ein gewöhnlicher regelmäßiger Spieler des Games spiele es rund eine Stunde pro Tag. Auch ohne Home Screen Icon werde Everwing damit zu einem Teil der täglich genutzten Apps. Obwohl die Fragen der Monetarisierung noch nicht abschließend geklärt seien, wolle der Entwickler weiter an dieser Entwicklung festhalten.
Mit Chatbots können Unternehmen hingegen „Berührungspunkte wie den Kundenservice verbessern und die Verkäufe ankurbeln“ – die Nutzer bräuchten die App dazu nicht zu verlassen, so profitieren beide Seiten, meint Ekholm.
Doch für die Unternehmen gibt es noch einen weiteren wesentlichen Vorteil: Weixin und seine Services erreicht in China stolze 95 % der Smartphone-Nutzer – plattformübergreifend. Davon können Apple und Googles Android nur träumen. Während WeChat den Sprung über die Mauer trotz groß angelegter Werbeaktionen nicht gemeistert hat, wären ähnlich stolze Werte für Unternehmen wie Facebook nicht unvorstellbar.
Progressive Web Apps
Die Chrome Dev Summit in San Francisco widmete sich vergangenes Jahr weitestgehend den Progressive Web Apps (PWA). Das sind Anwendungen, die über eine URL direkt im Browser aufgerufen werden. Damit besitzen sie ebenfalls das Potential, Nutzer über alle Plattformen hinweg anzusprechen. Die App muss nicht installiert werden, kann aber als Icon auf dem HomeScreen des Smartphones abgelegt werden. Dies stellt für die meisten Anwender eine deutlich geringere Hürde dar als die Installation einer nativen App – nicht zuletzt wegen des geringeren Speicherverbrauchs. Dank Push-Benachrichtigungen und einer Caching-Funktion, die zuvor geladene Inhalte später auch offline abrufbar macht, wird mit PWAs jedoch eine ähnlich hohe Kundenbindung erzielt wie mit nativen Apps. Der zusätzliche Entwicklungsaufwand entfällt hingegen. Inhalte solcher Apps sind nicht nur mit allen Geräten, sondern auch von Suchmaschinen abrufbar und können daher besser gefunden werden. Die Anbieter von PWAs sind außerdem von keinem App-Store-Betreiber abhängig.
Was für den Nutzer von Vorteil ist, kann App-Store-Betreiber wie Apple jedoch Milliarden kosten, galt die Entwicklung zum Service-Giganten in Zeiten sinkender Geräteverkäufe doch als möglicher Rettungsanker. Zwar hat auch Google mit dem Play Store eine eigene Plattform, doch anders als bei Apple war diese nie konkurrenzlos, da Android kein abgeschlossenes System bildet. Google kann in PWAs außerdem mit seiner Kernkompetenz Geld verdienen: Werbung. Je mehr Zeit die Menschen im Web verbringen, desto mehr Werbeanzeigen klicken sie an.
Noch erfüllen nicht alle Browser die für PWAs erforderlichen technischen Voraussetzungen: Chrome und Firefox sollen bereits voll kompatibel sein, aber auch von Safari, Opera und Edge soll es positive Signale geben. „Doch was könnte Apple bewegen, PWAs in Safari zu unterstützen?“, fragt Jason Billingsley auf Twitter:
@drewzie @mjasay what is the motivation at Apple to support pwa in safari?
— Jason Billingsley (@jbillingsley) 16. November 2016
Die Antwort: „Eine Nutzererfahrung auf anderen Plattformen, die um so viel besser ist, dass iOS-Nutzer danach verlangen“, zitiert „drewzie“ das Chrome-Entwicklerteam. Ein herausragendes Benutzererlebnis und intuitive Bedienung war Cupertino schon immer sehr wichtig. Apple kann nicht zulassen, dass Android den Nutzern ein besseres Erlebnis im mobilen Web bietet, als es auf dem eigenen System der Fall ist. Google lässt anderen Marktteilnehmern aber auch kaum eine Wahl, wie Jason Grigsby aufzeigte: „Nur weil iOS nicht jeden Aspekt von PWAs unterstützt, bedeutet das nicht, dass sie gar nicht auf iOS laufen“. Es ist vermutlich nur noch eine Frage der Zeit, bis Apple überlegt, wie der neue Trend möglichst gewinnbringend genutzt werden kann.
Weg von der App
Gartner hat herausgefunden, „dass Nutzer weniger Apps auf ihren Smartphones tatsächlich aktiv nutzen“, wodurch bewiesen sei, dass die Post-App-Ära bereits begonnen habe, sagte Ekholm. Ende 2016 verwendete ein Drittel der Nutzer zwischen 6 und 10 Apps pro Monat. Das sei ein Rückgang um 6,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Während Super-Apps und PWAs noch immer Apps sind, ermöglichen neue Funktionen wie interaktive Benachrichtigungen, Hintergrundmessungen oder Hintergrundaktualisierung sowie effizientere Hardware und Sensoren ganz neue Anwendungsbeispiele. Immer mehr Apps wie das Zeiterfassungsprogramm C-Time oder der bekanntere Empfehlungsdienst FourSquare laufen verstärkt im Hintergrund und machen (wie beispielsweise Warnwetter) vor allem durch Benachrichtigungen auf sich aufmerksam. Einmal eingerichtet, braucht man solche Apps häufig gar nicht mehr zu öffnen.
Sprachassistenten
Ein anderer Trend sind Sprachassistenten wie Apples Siri, Google Now, Cortana von Microsoft oder Alexa auf Amazons Heimassistenten Echo. Ihre Nutzung stieg im vergangenen Jahr um 4 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr auf nun 35 Prozent. Bis 2020 erwartet Gartner eine Nutzerquote von 40 Prozent. 70 Prozent dieser Nutzer ließen sich das Wetter vorhersagen und jeweils 44 Prozent ließen sich von den smarten Assistenten Orte in der Nähe vorschlagen oder Nachrichten vorlesen. „Nutzer suchen zunehmend nach Programmen, die eine ganze Reihe von Aufgaben übernehmen, ohne dass sie die App verlassen müssen“, sagte Ekholm und fuhr fort: „Das erlauben Messenger, aber auch Virtuelle Persönliche Assistenten (VPA) und letzten Endes die Post-App-Ära.“
Wie Super-Apps sind diese universal. Um eine Aufgabe zu erledigen, stellt er diese einfach, statt zu überlegen, welche App er dazu braucht, wie diese hieß und in welchem Order diese sich verbirgt. Diese Unternehmen konzentrieren sich inzwischen mehr darauf, den Nutzern ein besseres Nutzererlebnis zu liefern, statt sie möglichst lange in ihren Apps zu halten.
Dieses bessere Nutzererlebnis ist das Wesen der Post-App-Ära. Ich glaube nicht, dass dies für Apps und deren Entwickler bedeuten muss, dass sich ihre Rolle reduziert. Ich gehe sogar davon aus, dass sie steigt, doch die Apps, die sie bauen, und deren Funktionen müssen sich dieser Entwicklung anpassen, cleverer werden und den Nutzern ebenfalls ein besseres Nutzererlebnis liefern.
[via mubaloo.com]
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5 Kommentare zu dem Artikel "Beginnt die Post-App-Store-Ära?"
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moeNES 27. März 2017 um 10:53 Uhr ·Das soll wohl ein Witz sein, bei dem Tencent-Abschnitt. Als ob Menschenrechtsverletzungen im Westen kein Thema wären. Da gibts ja das Stichwort NSA und andere Geheimdienste, die durch Spezialvereinbarungen genau den gleichen, wenn nicht schon einen besseren Einblick in die persönlichen Daten haben.iLike 3
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MSG 27. März 2017 um 11:53 Uhr ·Termin beim Arzt via App? Ich wäre dafür. Stundenlanges warten im Wartezimmer hätte dann hoffentlich ein Ende.iLike 2
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Rumgeharkt 27. März 2017 um 11:58 Uhr ·ERSTERiLike 2
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Herminator 27. März 2017 um 13:46 Uhr ·Der App Store ist sicherlich die am wenigsten User optimierte Möglichkeit an Apps zu kommen. Da sich Apple seit Jahren überhaupt nicht mehr um ihn kümmert, trotz 30% Gebühr, zeigt das da der Zug abgefahren ist. Das Grundgerüst ist eh schon da, ein paar „must haves “ je nach Geschmack ( Wetter, Streaming, Social Media, banking, Taxi oder ÖVP.. Games) fertig… Zum Glück ist Apple auch nicht so verbohrt ein halbes Dutzend „Zeitgeist Apps“ draufzumüllen, das sieht anderswo ( Samsung HTC etc) viel schlimmer aus.iLike 1
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iKurt 28. März 2017 um 06:53 Uhr ·2 Millionen Apps im AppStore oder 2 Millionen Apps im Messenger – wo ist der Unterschied? Richtig, optimale Datenverzahnung wenn alles in einem Messenger ist, optimal für die Überwachung.iLike 0